Presse Ein Sommernachtstraum

Nachtkritik, Julia Nehmiz, 14.1.22

Brutale Ergänzung
Im Angesicht unserer Realität wird aus Shakespeares Komödie eine kämpferische Ansage: düster und trotzdem federleicht. Sabine Auf der Heyde schenkt ihrem "Sommernachtstraum" Radikalität und Liebe.

Der Wald ist keine Sehnsuchtsidylle mehr. Kein friedlich-romantischer Ort mit zauberhaften Elfen im Blütentau. Dieser Wald ist Kampfplatz. Ist Kriegsplatz. Tarnnetze deuten Waldgrün an. Lysander und Hermia hissen eine Widerstandsfahne mit gemaltem Baumsymbol: eine geballte Faust als Baumkrone. Hambacher Forst statt Shakespeare-Romantik.
Regisseurin Sabine Auf der Heyde zeigt Shakespeares "Sommernachtstraum" an den Bühnen Bern als das, was übrigbleibt, wenn man den kitschig-süßen Elfenzucker runterkratzt: Ein Alptraum, in dem es nur Verlier:innen gibt. Diese Lesart ist nicht neu, aber bei Auf der Heyde umso radikaler. Denn: Liebe ist brutal. Die patriarchal deformierte Welt ist brutal. Und die Menschen, die darin umherirren und nach Liebe suchen, sie sind auch brutal.
Auf der Heydes Lesart wird verstärkt durch die textliche Erweiterung von Kim de l’Horizon, Berner Hausautor:in. Keine Überschreibung, mehr eine Ergänzung, die sich zwischen die alten Textteile schmiegt. Wo Shakespeares Sprache endet, gibt Kim de l’Horizon den Figuren Worte. Hippolyta, deren Schicksal sonst nur angedeutet wird, crasht in der Berner Inszenierung mit einem kämpferischen feministischen Statement die eigene Zwangshochzeitsfeier. Auch Helena bekommt eine andere Tiefe, schreit ihren Hass auf sich und das System heraus. Oberon und Titania fechten ihren Streit um das Kind mit einer Vehemenz aus, Weltbilder prallen aufeinander. Und das Kind bekommt eine Stimme (vier Stimmen) wird zu einer Art Sprachrohr der jungen Generation – schlagwortartig gesprochen von den vier Liebenden: Sie möchten in einer Welt aufwachsen, die nicht geträumt ist.

Als wäre das nicht schon genug, packt Sabine Auf der Heyde noch den ganzen großen Rest hinein, überbordend an Inhalten, sprühend vor Spiellust. Ihr Sommernachtstraum wird zur Liebeserklärung an das Theater, zum Manifest für Feminismus, zum Statement für Liebe jenseits Gendergrenzen. Und zum bitteren Abgesang der jetzigen patriarchalen Welt. Wenn Zettel von Puck in einen Esel verwandelt wird, braucht es keine Eselsohren, nur übermännliche Attribute, toxische Pseudomännlichkeit. "Respect my dick", schreit dieser Esel mit nacktem Oberkörper und Sonnenbrille, und drischt auf das Schlagzeug ein.

Trotz dieser Themenfülle wird dieser Sommernachtstraum zum funkelnden Spiel des Theaters mit dem Theater. Ein düster-federleichter Abend. Da sind zum einen die vier Liebenden, die nicht den heteronormativen Zuschreibungen entsprechen: Lysander wird von einer Frau, Helena von einem Mann gespielt. Das erzeugt eine höhere Dringlichkeit. Wenn Demetrius (Linus Schütz) vor Helena wegläuft, läuft er auch vor seiner Angst weg, sich diese Liebe einzugestehen. Helena (Kilian Land) ist wie eine gefallene Dragqueen: armselig und anrührend in ihrer Verlorenheit, bitter in ihrem Selbsthass, linkisch in ihrer Suche nach Liebe. Wie sich Lysander (Mariananda Schempp) und Hermia (Genet Zegay) auf ihrer Flucht im Wald geschmeidig belauern, animalisch umtänzeln, kämpfend anfallen – ein starkes Bild für Macht, Unterwerfung, Hingabe.

Dann sind da die Mächtigen – Theseus, Hippolyta und Egeus in Athen; Oberon, Titania und Puck im Wald. Auch hier verschwimmen Geschlechterzuschreibungen: Egeus und Oberon werden von einer Frau (kraftvoll: Isabelle Menke) gespielt. Egeus ist willfähriger Vollstrecker Theseus', Oberon ist eine Art Ökofaschist. Theseus wird bei Claudius Körber zum schleimig-fiesen Diktator, der Gewehr, Macht und Hippolyta fest in der Hand hält. Sein Puck ist ein Kleinkrimineller mit magischen Kräften.

Und dann ist da noch die Handwerkertruppe. Bei Sabine Auf der Heyde sind es Schauspieler. Zwei sind noch übrig, Zettel (David Berger) und Squenz (Jan Maak). Die anderen hat die Krise verschluckt. Und wie die beiden spielen, dass sie spielen, spielen müssen, ist Theaterfest und Himmelreich. Zettel: der überambitionierte junge Schauspieler. Squenz: der abgelöschte ältere Kollege, der dann doch noch einmal brennt, für die Aufführung von "Pyramus und Thisbe". Doch die Hofgesellschaft will das gar nicht sehen. Niemand ist mehr da. Nur das Theaterpublikum. Dann spielen Zettel und Squenz eben den Zuschauer:innen das "quälend kurze Spiel von Pyramus und Thisbe" vor. Mit großen Defiziten, mit heiligem Ernst – eine Liebeserklärung ans Theater. Die einzigen, die lieben; die einzigen, die fühlen; die einzigen, die der Liebe wegen lieben und leiden und nicht wegen sich selbst oder dem System, sind Pyramus und Thisbe, sind Zettel und Squenz. Wahre Liebe gibt es nur im Theater.


seniorweb, Peter Schibli, 19.1.2022

Regisseurin Sabine Auf der Heyde hat Shakespeares Werk aktualisiert, pointiert und politisiert. Die Menschen irren herum, suchen verzweifelt nach Liebe. Männer stehen für Macht, Herrschaft und Gewalt, Frauen für Natur, Liebe und Sanftheit. «Träume im Mondlicht» geschaffen hat der Hausautor von Bühnen Bern, Kim de l`Horizont, mit Zwischentexten und Ergänzungen. Helvetische Klänge erinnern daran, dass die wilden Zustände nicht nur in Athens Wäldern, sondern auch in Bern herrschen. «Wasser ist genug die Aare heruntergeflossen», sagt ein Protagonist. Der Maulwurf will «einen Tunnel durch die Alpen graben», und der Schweizer Psalm ertönt.
Um die patriarchalischen Strukturen deutlich zu machen, findet ein Geschlechtertausch statt. Frauen schlüpfen in Männerrollen und umgekehrt. Lysander wird von einer Frau, Helena von einem Mann gespielt. Dadurch wird die Jahrhunderte alte Ausbeutung der Frauen betont. Kim de l`Horizon will dies auch als Ausbeutung der Natur verstanden haben. Lysander und Hermia hissen eine Widerstandsfahne mit einem gemalten Baumsymbol, eine geballte Faust als Baumkrone. Shakespeares Athener Wald wird zum Bremgartenwald, zum Schweizer Forst. Oberon und Titania streiten um ihr Kind, in Schweizer Scheidungen zu oft brutaler Alltag.
Trotz all der Verwirrung und Hektik: Die Inszenierung wirkt lustvoll, sinnlich, poetisch, musikalisch. Mehrfach greifen die Spielenden selber in die Tasten und Saiten, geben alles. Hardrock mit «Fuck you» fegt über die Bühne. Unterschiedliche Werte und Weltbilder prallen aufeinander, Liebesszenen gehen nahtlos in wilde Kampfszenen über, die idyllische Elfenwelt kollabiert. Als Zuschauer ist man hin- und hergerissen zwischen einer antiken Tragödie und einer Late-Night-Comedy. Ganz weit weg fühlt man sich an Szenen der «Comedia dell`Arte» erinnert.
Gegen Macht und Dominanz
«Eine Erweckung zur Liebe kann nur stattfinden, wenn wir uns von den Vorstellungen von Macht und Dominanz lossagen», steht im Programmheft. Das ist genau das Thema der exzentrischen Berner Inszenierung. Die Shakespeare-Komödie ist ein Manifest für den Feminismus jenseits der Gendergrenzen, eine Absage an patriarchalische Strukturen, Machtausübung, Unterdrückung und Gewalt, physische wie verbale. Nur wer vollkommen frei ist in der Partnerwahl, kann die wahre Liebe erleben.
Die zweite Botschaft ist eine ökologische: Die Natur ist eine natürliche Ressource, die auch heute noch ausgebeutet wird, um das Wirtschaftswachstum und das Konsumverhalten in den reichen Industrienationen sicherzustellen. Nach der Lesart von Hausautor Kim de l`Horizon werden aktuell die Natur und die Frauen zu Objekten degradiert, vom Mann beherrscht und kontrolliert. Dem muss endlich Einhalt geboten werden.
Die Berner Inszenierung ist speziell. Wer eine klassische Shakespeare-Komödie erwartet, wird enttäuscht sein und Gründe finden, weshalb er oder sie die Aufführung überdreht findet. Max Reinhardt in Ehren: Seit den beiden legendären Inszenierungen des berühmten Schauspiellehrers haben sich das Theater und die Welt weitergedreht. «Wo Shakespeare aufhört, fängt Kim de L`Horizon an zu sprechen und lässt so eine Utopie aufleuchten von einer Welt, die sich nicht auf die Prinzipien von Ausbeutung und Macht stützt, sondern auf eine Ethik der Liebe.»