Presse Für alle reicht es nicht​​​​​​​​​​​​​​

nachtkritik, Dirk Pilz, 24.4.2010

„Schön, wie sie da am Bühnenrand an ihren Basteltischen hocken und sich mit Geräuschen eine Atmosphäre schaffen. Ein Holzpfeifchen, ein Stoffrascheln, ein Uhu-Rufen, und im Waldhalbdunkel sehen wir einen Wolf tanzen. Lichtwechsel, nächste Szene.
Laucke gibt mit "Für alle reicht es nicht" den Lumpensammler im Stile Walter Benjamins: Er sammelt die Übersehenen, Vergessenen, ins Abseits Geschobenen zusammen, holt ins dramatische Licht, was die deutsch-deutschen und globalen Welt- und Geschichtsverhältnisse wissentlich am Rande haben liegen lassen. Der Laucke-Realismus ist ein kräftig sozialdramatisch gefärbter Realismus mit hohen Ansprüchen an seine Passgenauigkeit und Wachrüttelqualitäten: Hallo, schaut doch mal hin auf die Erniedrigten und Beleidigten, nehmt doch wenigstens wahr, dass die Gegenwart nicht an euren Milieugrenzen aufhört! Laucke ist dabei sympathischerweise kein gesellschaftskritischer Drauflosschimpfer, er ist ein ernsthaft dramatischer Rufer, letztlich ein gut protestantischer Anrufer des gesellschaftlichen Gewissens. Sein "Chinamenschen"-LKW will auch eine Allegorie auf uns und unsere Selbstwahrnehmung sein: Wir sind allesamt Abgeschobene in ein anonymes System, wir sind alle Betroffene von dem, was wir tun und lassen.
Sabine Auf der Heyde hat, um diesem Ruf Bühnengehör zu verschaffen, eine Art Regie-Verstärker gebaut. Sie benutzt dafür einen so einfachen wie effektiven Regie-Trick: Indem sie die Szenen und Schauspieler zwischen Geräusche- und Realismusmacherei aufspannt, indem sie ihr Quartett rechts als Theaterverfertiger und mittig als Figurenanverwandler auftreten lässt, indem sie also das Gemachte der Inszenierung dick unterstreicht, schafft sie ihren durchweg spielfreudigen Darstellern den Rahmen für umso drastischere Wirklichkeitsabbildnerei.
(...) Durch Sabine Auf der Heydes zupackende Regie (wird) auch etwas deutlich, das Lauckes Stück allenfalls in den Fußnoten mitführt: der gebastelte, gemachte Charakter der Erinnerungen und Gegenwartwahrnehmungen, der schwankende Boden, auf dem alle Realismusabsichten, Wirklichkeitsbefragungen und Gesellschaftsbildkonstrukte stehen.“


Tagesspiegel, Christoph Funke, 28.4.2010

"Die Regisseurin", schreibt Christoph Funke, "besteht auf einem ruhigen, mitunter fast statuarischen Spiel, sie betont das Unbestimmte, Verhangene der Charaktere." Dafür schaffe Jacob Suskes Musik Erregung und "mehr als nur einen Rahmen". Gut gefallen hat Funke Bernd Stempel, der als Panzerfahrer "zwischen Selbstmitleid, Begriffsstutzigkeit und Kraftmeierei" das "hinreißende Porträt eines Gescheiterten" liefere. Die anderen Schauspieler gäben dem Abend " nachdenkliche Hochspannung".​​​​​​​


Taz, Anne Peter, 28.4.2010

„ Die Regisseurin Sabine Auf der Heyde entwirft hier eine kleine, kluge Verfertigungs-Studie: Wie geht noch mal Illusion? Zum Beispiel so: Die Schauspieler sitzen am Bühnenrand und kreieren mit wenigen Hilfsmitteln eindringliche Hörspiel-Atmosphäre: Hände planschen im Schlammeimer – im Zuschauer-Kopf watschen Stiefel über eine moddrige Wiese, „schuhu“ macht die Stimme – fertig ist der Waldvogel, später rattert als Panzer ein Mixer vorm Mikro. Die Spielszenen dazwischen sind durch Blacks voneinander getrennt, gleichsam vom Bastel-Charakter umgestellt. Was die Figuren innen drin aber ungleich plastischer, direkter, realitätsnäher ins Licht hält. Denn wo die einzelnen Szenen derart wie unverbundene Puzzleteile nebeneinander stehen, kann jede für sich wirken, ohne dass sich negativ ins Bewusstsein schiebt, dass Lauckes Stück zur Mauerfall-Jubiläums-Stunde auch auf paradigmatische Konstellationen und große Symbole hin konstruiert ist.
Die Laucke-Sprache funktioniert auf der Bühne hervorragend, zumindest wenn sie sich solch glänzende Schauspieler auf den Leib ziehen. Dann gewinnt sie beinahe etwas spontan Improvisiertes. Paul Schröder, Katrin Wichmann, Bernd Stempel und Isabel Schosnig, sie alle erspielen ihren Figuren mit größtmöglicher Intensität die Zuschauergemüter und liefern vier berührende Porträts von Nachwende-Verlierern, denen man sogar verzeiht, wenn sie im Selbstmitleid bisweilen unbarmherzig um sich schlagen – solange die Landschaften nicht für alle blühen.“​​​​​​​